Verschattet von den Dämonen des Bösen – Der Mensch ist nicht nur gut, das Böse nicht nur das Gegenteil des Guten. Warum der Begriff viel mit dem eigenen Selbst zu tun hat und was uns das über Putin, Netanjahu und Selenskyj verrät.

Über die Natur des Bösen haben sich die Philosophen über Jahrhunderte Gedanken gemacht. Was nicht geht, ist auf jeden Fall die Idee Platons, dass sich die Menschen immerzu auf das Gute und Vollkommene hin entwickeln. Ein idealisiertes Menschenbild, das schön ist, aber nicht trägt. Das Böse ist auch nicht unbedingt das Gegenteil des Guten, so wissen es die Geisteswissenschaftler heute; denn in jedem Menschen stecke Gutes und Böses zugleich. Wer das Böse gewaltsam ausmerzen wolle, lande mitten in dessen Verstrickungen.
Heute wird von Philosophen und vor allem Psychologen dagegen eher der Begriff des Selbst ins Spiel gebracht, wenn es um Gut und Böse geht. Wer wirklich bei sich selbst ankomme, der tue sich am Ende schwer, Böses zu tun. Das Selbst bedeutet dabei weit mehr als das sogenannte „funktionale Ich“. Es umfasst vor allem auch die unbewussten Anteile des Menschen, stellt also letztlich seine tiefste Identitätsmöglichkeit dar. Erkennbar wird es in Momenten jenseits des Alltags oder auch in den Träumen. Es ist das ganz Heilige im Menschen.
Die Religionsphilosophen, aber auch spirituell sensible Psychoanalytiker- und Therapeuten weisen auch darauf hin, dass sich in dieses Unbewusste des Menschen so eben seine Glaubenserfahrungen hineinspielen würden. Das innerste Selbst des Menschen buchstäblich als Einflugschneise für seine je größeren und besseren Möglichkeiten jenseits der Wahl des Bösen. Gerade in diesem Selbst kommt auch der Andere an. Der Andere als der Andere meiner selbst. In der sogenannten „Überstiegsfähigkeit“ des Menschen, also dem Wissen, dass der Andere genau mein Schicksal als Mensch teilt, liegt das größte Friedenspotenzial, das den Menschen gegeben ist. Auch der Andere hat Familie, kämpft um sein Leben – und ist am Ende nicht natürlicher Feind, sondern im besten Fall Freund, oder wenigstens im gemeinsamen Schicksalskampf in dieser Welt Verbündeter.
Wenn wir uns die großen Problemfälle der Gegenwart anschauen, dann wird erkennbar, wie sehr die sich von der echten Beziehung zum anderen Menschen und vom eigenen Selbst verabschiedet haben.
Fall Nummer 1: Wladimir Putin. Ein bekannter Psychiater sagt zu mir: „Der steht zwei Meter vor einem anderen Menschen, schaut ihm ins Gesicht und tötet ihn, ohne noch ein Gefühl zu haben.“ Er nennt es eine „schizoide“ Entfremdung vom Gegenüber, wo keine Gefühle von Mitmenschlichkeit, Liebe oder auch Mitleid mehr ausgelöst würden.
Das erinnert auch an Saddam Hussein. Bei einer Regierungskrise im Irak vor Jahrzehnten machte ein Regierungsmitglied den Vorschlag, Saddam solle zurücktreten, um die Spannung im Volk zu mindern. Saddam bat ihn für ein kurzes persönliches Gespräch vor die Tür, zog dort eine Pistole, schoss dem Mann in den Kopf und kehrte seelenruhig in den Besprechungsraum zurück. Putin gehört heute schon zu den großen Verbrechern der Menschheitsgeschichte, wie wir sie vor allem aus dem 20. Jahrhundert kennen. Der ehemalige Siemens-Chef Joe Käser sagt mit Recht: „Putin war nicht immer so.“ Aber heute ist heute und gestern zählt nicht mehr. Welche Gefühle Putin für sein persönliches Umfeld, seine Familie und seine Freunde hat, wir wissen es nicht.
Fall Nummer 2: Benjamin Netanjahu. Seit über 20 Jahren im politischen Geschäft. Eigentlich am Ende. Mit letzter politischer Kraft in eine rechtskonservative Koalition als Regierungschef gekommen. 300 Zeugen waren vor Gericht bereit, die Betrugs- und Korruptionsvorwürfe gegen ihn zu bestätigen. Bedeutet: mehrjährige Gefängnisstrafe und das endgültige politische Aus. Seine Antwort: eine Justizreform mit genau einem Ziel: sich selber reinzuwaschen und straffrei zu bleiben. Die spaltet das Land und nimmt ihm die Aufmerksamkeit für seine Sicherheitsfragen. Viele israelische Mitbürgerinnen und Mitbürger warnen über Monate vor der Gefahr, dass deshalb an den Grenzen etwas passieren könne.
Es folgt der 7. Oktober, wo es tatsächlich passiert. Eine bekannte jüdische Schriftstellerin schreibt in der Wochenzeitung „Die Zeit“ wenig später: Netanjahu, Du hast uns verraten!“ Und sie steht mit ihrem Urteil gerade in Israel beileibe nicht allein. Für Netanjahu ist dieser hochgradig sadistische Terroranschlag die Möglichkeit, jetzt sich selbst aus seiner misslichen Lage zu befreien. Ohne Zögern beginnt er den Krieg gegen die Hamas im Gaza-Streifen, der ihm selber nützen soll. Es hätte Zeit gegeben für echte Evakuierungen der Zivilbevölkerung, über Monate, denn ein vergleichbarer zweiter Terroranschlag war jetzt, da die Aufmerksamkeit wiederhergestellt war, nahezu vollkommen ausgeschlossen!
Aber der Vorwand, Sicherheit für das Land wiederherstellen zu wollen, ist für Bibi den Krieger, wie sie ihn nennen, ein Elfmeter ohne Torwart! Bereits in den ersten Tagen des Krieges sterben zahlreiche israelische Soldaten, oft die einzigen Söhne ihrer Familien. Das Vorgehen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung spottet jeder Beschreibung und ist blanker Mord. Krankenhäuser zu bombardieren, weil sich darunter ein Terror-Tunnel befindet, ist ungefähr so, als würde man bei einem Banküberfall mit Geiselnahme die Bank in die Luft jagen, um die Bankräuber auszuschalten. Symptomatisch für die Seelenkälte des israelischen Regierungschefs ist sein lapidarer Satz, nachdem sieben NGO-Helfer von der israelischen Armee getötet wurden: „So etwas passiert im Krieg eben.“
Das ganz Schlimme: Netanjahus selbstsüchtiges Handeln hat die Situation für Israel im arabischen Umfeld noch gefährlicher gemacht. Zeichen der Hoffnung: Heute lehnen rund 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Israels Benjamin Netanjahu als Regierungschef ab und fordern Neuwahlen. Die Situation im Nahen Osten ist entsetzlich für viele unschuldige Menschen auf beiden Seiten des Konflikts. Netanjahu ist dabei ein entscheidender Faktor, weil es ihm im Letzten um sich selbst geht.
Fall Nummer 3: Wolodymyr Selenskyj. Ein bekannter Philosoph und Psychotherapeut diagnostiziert bei ihm das Phänomen der sogenannten „projektiven Identifikation“. Will heißen: Er verbindet sein Schicksal und das seines von Putin überfallenen Landes ganz massiv mit Anderen, auf die er sich lautstark projektiv bezieht. „Wir verteidigen eure Werte“, ist mit Blick auf die westliche Welt die Verführung, die von seinem Sprechen ausgeht und mit der er uns in seinen Kampf gegen das angreifende Russland immer tiefer hineinzuziehen versteht.
Zugespitzt kann man das so übersetzen: „Wir sind ihr!“ Was nicht stimmt und auch eine Auflösung klarer Identitätsgrenzen bedeutet. Die Ukraine ist weder Teil Europas noch Mitglied der NATO. Und bei aller Freiheitsliebe der Ukrainerinnen und Ukrainer auch nicht primär seelenverwandt mit dem Westen Europas. Als gelernter Schauspieler ist Selenskyj zudem auch recht begabt darin, Situationen emotional auszuspielen und zum eigenen Vorteil auszunutzen. Es ist ein sogenanntes Rollen-Selbst, mit dem er der Welt gegenübertritt – im Unterschied zum wahren Selbst – und so erfolgreich so viele blendet.
In seiner Sprache bleibt er hinter der Gewalt und Aggressivität Putins nicht zurück. Sein politischer Weg vor dem Krieg zeigt zudem nicht wirklich eine Leidenschaft für die Demokratie. Missliebige Medien oder auch Parteien wurden teilweise ausgeschaltet, politische Beobachter sprachen damals vor dem Krieg vom Weg Selenskyjs in eine „autoritäre Präsidialverfassung.“ Mögliche Kompromisse, die dann im Krieg im Raum standen und das gegenseitige Töten mindestens vermindert hätten, wurden von Selenskyj und seinen engen Beratern apodiktisch zurückgewiesen, wer widersprach, fand sich schnell als ehemaliger Berater des Präsidenten wieder.
Heute ist die Situation, gerade auch durch die Kompromisslosigkeit Selenskyjs, für die Ukraine katastrophal und für den Frieden in Europa längst bedrohlich. Wie Putin hat Selenskyj sein Konto gut gefüllt auf Panama, wie die Süddeutsche Zeitung in ihren „Panama-Papers“ ausführlich berichtete. Das ist wenig vertrauenserweckend! Wahlen im eigenen Land schließt Selenskyj mit Blick auf den Krieg aus. Es darf nicht übersehen werden, wie sehr Selenskyj an seinem Sessel und seiner Macht klebt und wie gefährlich sein Weg, der Abgrenzung der westlichen Welt zur Ukraine kategorisch verhindern will, für den Frieden in Europa ist.
Fazit: Es ist erschreckend, in welchen Händen das Schicksal der Welt zu einem guten Teil liegt. Es ist auch erschreckend, wie wenig die Machtspiele dieser Welt oft genug von sogenannten Fachleuten und Experten durchschaut werden. Wie alles strategisch, abstrakt und fern des einzelnen Menschenschicksals gedeutet und bedeutet wird. Wenn man weiß und spürt, wie kostbar jedes einzelne Leben ist – jedes Kind, das das Licht der Welt erblickt, jede Familie, die dankbar ihr Leben lebt, so mag man kaum glauben, in welcher Brutalität machthungrige Politiker und die, die ihnen so naiv und blind folgen, über diese Welt des Guten hinweggehen.
Straubinger Tagblatt vom 13. April 2024