Die Welt des Unbewussten

Unsere Welt von heute ist einerseits den Kriterien der Rationalität, der Organisation, der Arithmetik der Zahlen so stark unterworfen wie noch nie zuvor. Auf der anderen Seite treiben Verschwörungstheorien und esoterische Fantasiewelten ihre Blüten. Diese beiden Pole gehören offenkundig zusammen. Wo die Alltagswirklichkeit so schnell und unüberschaubar geworden ist wie niemals in der Geschichte der Menschheit zuvor, zerbricht in der Mitte der Extreme die Lebenswelt, in der Menschen sich zurechtfinden können. Früher gab es einen Beruf, eine Familie und am Sonntag den Sonntagsbraten und den Gottesdienst am Morgen.

Dass diese Welt fragwürdig geworden ist, hat auch sein Gutes. Aber in der neuen Unübersichtlichkeit der Welt geht für viele die Orientierung verloren, was wirklich ist und was nicht. Gerade die digitale Welt mit ihren vielen unwirklichen Abgründen hat das nochmals verstärkt. Was kann ich glauben? Was kann ich wissen? Wohin führt mich mein Lebensweg? Wo überschreite ich die Grenzen der greifbaren Wirklichkeit hin auf eine tiefe spirituelle Welt und wo dagegen verlaufe ich mich im Irrtum, im Irrsinn? Das sind wichtige Fragen.

Das Bewusstsein des Menschen ist nur die Spitze des Eisbergs, das hat vor gut 100 Jahren Sigmund Freud in seinen wegweisenden Schriften erforscht. Im Unbewussten wurzelt der Urgrund der Seele des Menschen. Dorthin greift der Glaube, aber auch der Wahnsinn. Die Welt der Träume, aber auch der Abgrund der Ängste. Das sogenannte Selbst des Menschen führt weit über das Alltags-Ich hinaus. In der Tiefe des Unbewussten liegen großartige Möglichkeiten, aber auch schlimme Gefahren. Über diese Welt des Unbewussten nachzudenken und über sie zu schreiben, ist in diesen Tagen, die so sehr von oft äußerlicher Rationalität und Rhetorik beherrscht sind, wichtiger denn je zuvor.

Straubinger Tagblatt vom 11. November 2023