Die Kirchen sind am Sonntag schon lang nicht mehr gut besucht. Und was ist ein Gebet? Eine Fantasie, ins Nichts gerichtet? Bei vielen dominiert heute die moderne Welt. Geld, Macht, Sehnsucht nach eigener Bedeutung. Virtuelle Welten, die die gesamte Wirklichkeit auszuleuchten scheinen. Aber was ist Wirklichkeit denn überhaupt?
Ist ein Leben, das in der scheinbar sicht- und wissenschaftlich erkennbaren Welt aufgeht, überhaupt ein Leben, das die gesamte erfahrbare Wirklichkeit abbildet? „Ich kann nicht glauben, dass das, was ich sehe, schon der Lauf der Welt ist“, schrieb einst der Schweizer Schriftsteller Max Frisch. Der bekannte Psychiater Werner Huth hat über diese Thematik vor fast 40 Jahren ein großartiges Buch geschrieben: „Glaube, Ideologie und Wahn – Der Mensch zwischen Realität und Illusion“. Ein Psychiater also – und ein Buch über den Glauben. Ungewöhnlich nur auf den ersten Blick.
Die Seele des Menschen liegt immer jenseits der greifbaren, bloß äußerlichen Wirklichkeit, das weiß gerade der Seelen-Doktor. Weil so in einer immer noch materialistischeren Welt die Frage nach der Seele des Menschen gerade in den vergangenen Jahren auch noch dringlicher geworden ist, hat der Herder-Verlag dieses Buch, das so ganz aktuell ist, in einer überarbeiteten Fassung neu aufgelegt. Gibt es Gott? Ist der Glaube des Menschen also am Ende sogar Teil einer umfassenderen Wirklichkeit? Oder ist die Frage nach Gott im 21. Jahrhundert völlig bedeutungslos geworden?
Der Psychiater Werner Huth antwortet: „Es gibt verschiedene Wirklichkeitsebenen und verschiedene Zugangswege zur Wirklichkeit“. Einem „alltäglichen Umgang“ mit unserer Welt und einem „wissenschaftlich verstehbaren Zugang“ zu ihr fügt er den entscheidenden dritten Weg hinzu: den „gläubigen Zugang“, der „keine Kontrolle, sondern eine Haltung des Geöffnet-Seins“ sei.
Wie aber wissen, dass das, was ich als Glaubenserfahrung erlebe, wirklich ist?
„So wie sich nicht beweisen lässt, dass man seinen Partner liebt, aber beide es erfahren können, so lässt sich auch die Wirklichkeit dessen, woran man glaubt, nicht beweisen.“ Der Glaube also in seiner Wirklichkeit erfahrbar, aber etwas ganz anderes als eine Fata Morgana, eine wahnsinnige Fantasie, die genau nicht wirklich ist. Deshalb spreche man auch von „Glaubensbrüdern“, die je für sich vergleichbare Erfahrungen gemacht hätten, während es keine „Wahnbrüder“ gebe, da dort jeder im ganz eigenen Irrsinn verweile.
Als Psychiater hat Huth die Überzeugung, dass jeder Mensch irgendetwas glauben müsse. Durch die Sinnfrage, in der jeder Mensch stehe, stelle sich immer das Glaubensthema, ganz gleich wie das dann beantwortet werde: mit Ablehnung des Glaubens und eigenen Überzeugungen, mit Gleichgültigkeit, oder eben durch die Öffnung der Seele auf die Ebene hin, wo religiöse Erfahrung möglich werde. Weil die Welt „unverrechenbar“ und „geheimnisvoll“ bleibe, öffne sich genau dort die Tür zum Erleben geistiger und spiritueller Wirklichkeit. Entscheidend sei, dass Glauben gerade nicht bedeute, die eigene Identität aufzugeben und so sich selbst zu verlieren. Im Gegenteil: Das eigene Selbst auf einer viel tieferen Ebene zu erfahren und für das Leben fruchtbar zu machen. Neben diese Glaubensmöglichkeit des Menschen stellt Werner Huth die Phänomene des Wahnsinns und der Ideologie. Auch hier wird die Alltagswirklichkeit überschritten und es werden Sinnsysteme konstruiert, die für Betroffene sinnstiftend zu sein scheinen. Der Wahnsinnige mit einer Ersatzwirklichkeit, die so gerade nicht wahr ist, und der Ideologe mit einer Systemwirklichkeit, die die Außenwelt scheinbar sinnvoll ordnet. Das ist mit dem Glauben auf den ersten Blick verwandt als Welt jenseits der greifbaren Wirklichkeit – aber am Ende doch exakt das Gegenteil einer Glaubenserfahrung.
Huth zeigt aus seiner langjährigen therapeutischen Erfahrung mit vielen Beispielen, wie Wahnsinn und Ideologie den Blick auf Welt und Leben verengen und zerstören. Gemeinsames Bindeglied von Wahnsinn und Ideologie ist dabei der pathologische Narzissmus. Denn in beiden Fällen wird ein wahres Verhältnis zur Wirklichkeit nicht zugelassen, sondern eine auf die eigene Person zugeschnittene Wirklichkeit konstruiert.
Der Versuch, sich in realistischer Weise auf die Außenwelt zu beziehen, entfällt. Stattdessen wird eine künstliche eigene Weltsicht für absolut gesetzt. Beim Ideologen komme es zu einer „einseitigen Machtverteilung des Ichs, die sich so ausdrückt, dass man von einem oder wenigen Aspekten der Wirklichkeit förmlich besessen ist, während gleichzeitig andere unabweisbare Strukturen der Realität und vor allem mitmenschliche Beziehungen weitgehend ausgeblendet werden.“ Diese Entwertung des Anderen ist ein entscheidendes Merkmal des Ideologen. Eine solche Geschlossenheit der eigenen Weltsicht teile der Ideologe mit dem Wahnsinnigen. Auch er kann keine mit den Mitmenschen gemeinsame Welt aufbauen, sondern lebt in seiner eigenen, buchstäblich wahnsinnigen Wahrnehmung von Welt. Es gibt auch dort keine wechselseitigen Beziehungen mit anderen Menschen, keine gemeinsamen Emotionen oder Gefühle, keine Sprache, die den Anderen wirklich erreicht. Wie der Ideologe glaubt aber auch der Wahnsinnige an die Wahrheit seiner eigenen Perspektive auf seine Welt. Während der Ideologe die Gewissheit seiner theoretischen Weltsicht konstruiert, verfällt der Wahnsinnige einer „Wahngewissheit“, so Werner Huth.
Glaube, Ideologie, Wahnsinn. Drei Begriffe, die einander zugeordnet werden können, aber doch unterschiedlicher kaum sein können. Es geht bei allen dreien um die Sehnsucht nach Überschreitung der greifbaren Wirklichkeit dieser Welt. Dabei ist offensichtlich nur die wahre Spiritualität, ganz gleich in welcher Religionsform, ein fruchtbarer Boden für das eigene Leben und gelingende Beziehungen zu anderen Menschen. Das Buch von Werner Huth sei zur Lektüre in den Weihnachtsfeiertagen herzlich empfohlen!
Werner Huth: Glaube, Ideologie und Wahn. Der Mensch zwischen Realität und Illusion, Freiburg im Breisgau 2023;
Straubinger Tagblatt vom 11. November 2023