Dass Religionen buchstäblich nicht vom Himmel fallen, sondern auf einen kulturellen und historischen Kontext angewiesen sind, in dem sie ins Leben kommen können, wird manchmal vergessen oder auch bestritten. Aber es nimmt doch dem Glauben nicht seinen Transzendenzbezug, wenn man versteht, weshalb genau in einer bestimmten historischen Phase der Menschheitsgeschichte eine Religion mit ihrem Stifter möglich wurde.
Spektakulär allerdings ist die Sicht des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Jürgen Wertheimer, der mit Blick auf Mohammed und den Islam feststellt: „Niemand sonst ging so weit wie Mohammed. Er gab vor, ein Originalmanuskript, gleichsam einen O-Ton, unmittelbar aus Gottes Mund erhalten zu haben, und erreichte damit einen Grad an Authentizität und Verbindlichkeit, den es in dieser Form bislang nicht gab.“ Gott diktiert Mohammed die Suren des Koran über die Jahre, so Mohammeds Erzählung – und das ist dann auch das historisch Neue gegenüber Juden- und Christentum, das es eben immer braucht, damit eine Religion und ein Glaube entstehen können. Wenn wir heute feststellen müssen, dass dem Islam eine besondere Nähe zur gewalttätigen und fundamentalistischen Deutung innewohnt, dann kommt das nicht nur daher, dass Mohammed als Krieger, der sich sein Mekka erobern musste, auch durchaus martialische Suren in den Koran schreibt – das gibt es ja auch im Alten Testament –, sondern es rührt eher daher, dass ein göttliches Diktat, was der Koran zu sein vorgibt, einer Auslegung und Deutung viel schwerer zugänglich ist als andere religiöse Texte wie etwa das Neue Testament. Auch im Islam gibt es die Wissenschaft der Deutung und Auslegung, also der Textexegese, aber das ist im Augenblick noch die liberale und seltenere Variante.
Dass der Begriff „christlich-abendländische Kultur“ ein Humbug sei, wird heute von manchen Philosophen und Wissenschaftlern gerne behauptet. Zu weit seien die verschiedenen Wurzeln von griechischer Philosophie und christlicher Religion auseinander, als dass man diesen Begriff wissenschaftlich seriös verwenden könnte. Aber mit einer solchen Haltung gibt man doch leichtfertig wertvolles kulturelles Terrain preis. Denn es gibt so tief greifende Anknüpfungspunkte der Humanität in der griechischen Philosophie und dem christlichen Menschen- und Weltbild, dass ein Verzicht auf die gemeinsame Rückbesinnung auf diese Wurzeln regelrecht verantwortungslos erscheint.
Es ist eine Kultur des mündlichen Sprechens, was verbindet. Kein Diktat einer Gottes- und Weltsicht. 500 Jahre vor Jesu Geburt läuft Sokrates als fragender Mensch durch Athen. Ganz undogmatisch weiß er, dass er nichts weiß. Auch Jesus findet sich selbst nur in der Begegnung mit anderen oder mit dem anderen. Alles bleibt Gespräch, Lehre, Gleichnisse. Die Evangelisten, die das am Ende aufschreiben, was erinnert wird, machen das eine ganze Generation später, der Evangelist Johannes fast 100 Jahre danach. Und sie sind bis heute darauf angewiesen, dass sie in jeder Zeit neu gedeutet werden – und das ist auch die Lehre der Kirchen, die den Glauben jeden Sonntag neu verkünden.
Auch Platon, der seinen Lehrer Sokrates so tief liebte, vertraute seine Philosophie nur ungern einem Text an. Philosophieren war Gespräch, Kultur der Mündlichkeit. „Der lebendige und beseelte ,logos‘ (gemeint ist in etwa das, was die Philosophie heute das ,wahre Sprechen‘ nennt) des Dialektikers kann all das, was der geschriebene nicht kann: Er kann sich zur Wehr setzen, und er kann reden und schweigen zu denen er reden bzw. schweigen soll.“ (Thomas Alexander Szlezák, Platon) Es ist ein persönlicher philosophischer Unterricht, um den es Platon mit seinen Schülern geht, und am Ende weiß der Philosoph auch, dass das, was erkannt wird, nicht ein logisches Resultat eines Gesprächs ist, sondern „ein plötzliches Aufleuchten des Lichtes der Erkenntnis, ein plötzlich entflammtes Licht“, so schreibt es der profunde Platon-Kenner aus Tübingen. Das aber gibt es gerade auch im Christentum, dass einem ein Licht aufgeht, dass einer sich plötzlich wandelt, die Gleichnisse im Neuen Testament, in denen das Licht die entscheidende Rolle spielt, sind unzählige. Auch Jesus ist nicht nur Gottes Sohn, sondern Lehrer für die Seinen, die sich ihm anvertrauen.
Im Glauben und in der griechischen Philosophie geht es um die Unsagbarkeit der letzten Erkenntnis, es kann nicht Sprache werden, was im Letzten ist, sondern es kann immer nur sprachlich umkreist und angenähert werden. Genau diese Haltung aber haben die großen Philosophen, die bedeutenden Theoretiker der Psychoanalyse und auch viele Schriftsteller im 20. Jahrhundert aufgenommen und stehen so ganz auf dem Boden des Erbes der „christlich-abendländischen Kultur“.
Und noch etwas ist bei Platon ganz modern: Denken und Sprechen sind bei ihm eine Selbstvergewisserung. Im Sprechen und Denken kommt der Mensch mit sich selbst in Kontakt. „Damit das Denken zu einem Ziel führe, bedarf es nicht zweier Subjekte, die erst im Dialog zusammenfinden“; vielmehr geht es darum, „das eigene Denken ins Reine zu bringen“. (Thomas Szlezák)
Zu sich selbst zu kommen, das ist gerade heute immer noch das ganz große Thema derer, die sich um ein gelingendes gutes Leben bemühen.
Aber sonst? An den Universitäten herrscht Massenbetrieb. Das persönliche Gespräch gibt es schon noch, aber in kleiner Gruppe über eine Zeit einen Weg mit einem Lehrer an der Universität zu gehen, ist doch oft nicht mehr möglich. Die schnelllebige Wirtschaft mit ihren Prinzipien Konkurrenz und Effektivität wirft ihre Schatten. Und die Kirchen, in denen der Glaube immer wieder neu erfahren werden soll, werden von Jahr zu Jahr leerer, nicht nur wegen der Skandale in Köln und anderswo, die Welt ist eine andere geworden. Und wenn für Platon das gesprochene Wort noch eine seltene und wertvolle Münze ist, mit der es vorsichtig umzugehen gilt, so wird im digitalen Netz heute alles sofort herausgeblasen, was einem einfällt. Eine immerhin halbmündliche Kultur, aber doch das Gegenteil von dem, was Platon damals vorschwebte.
Kulturpessimismus? Viele neigen dazu. Nicht nur, weil die Umwelt verrückt spielt. Aber das kann nicht die Antwort sein. Gute Erfahrungsräume für gelingendes Leben gibt es noch immer viele. Aufgeben gilt nicht. Und die jungen Menschen sind nicht weniger hungrig nach Sinn und echter Erfahrung als in früheren Zeiten.
Und die Politik? In Wahlkämpfen wird viel debattiert. Vieles ist nur geschliffene Rhetorik, die beim Wähler ihren Eindruck hinterlassen soll. Und was wäre dann eine gute Perspektive? Hinschauen, hinspüren, in sich hineinhören, bei wem man hinter allem Wahlkampfgetöse den Eindruck hat, dass er/sie doch ganz brauchbar ist.
Straubinger Tagblatt vom 28. August 2021