Die Kategorien der Krise – Wie Gesellschaft und Medien durch aktuelle und anstehende Ausnahmesituationen steuern – und wie die Politik in der gespenstischen Stille der sinnleeren Debatten versinkt

Die Perioden des Glücks sind die leeren Blätter der Weltgeschichte.“ Diesen Satz des Philosophen Friedrich Hegel zitiert Jan Assmann in seinem schönen Buch „Achsenzeit – eine Archäologie der Moderne“. Ein solcher Satz ist schwer zu verkraften. Denn die Menschen wollen vor allem Glück, Zufriedenheit und am allerwichtigsten: den Frieden. Wenn aber das Gegenteil von Glück die Geschichte der Menschen in der Hauptsache ausmacht, dann sind die längsten Phasen der Geschichte „Leiden, Spannung, Krise, Unterdrückung“ (Jan Assmann). Wie traurig!

Immerhin: Dadurch können die Bürgerinnen und Bürger zu politisch bewussten Persönlichkeiten reifen, so die interessante These von Assmann. Die eigene Geschichtlichkeit zu verstehen, wird auf diese Weise eine „Frage des Bewusstseins, dem nur unter bestimmten existenziellen Bedingungen Geschichte zum Problem und Thema wird“.

Der Zweite Weltkrieg zum Beispiel, der in der CDU und in der SPD so außergewöhnliche Spitzenpolitiker heranreifen ließ. Krisenbewusstsein also als Chance, die eigene historische Situation zu verstehen und Politik zu machen oder zu verändern. Der Soziologe Reinhart Koselleck nennt in einem Vortrag bereits 1987 verschiedene Kategorien von Krisen, die als Themen Geschichte und Politik prägen. Zum Ersten das Thema „Sterbenmüssen und Tötenkönnen“; als Zweites die Frage, wer ist Freund und wer ist Feind; in diesem Sinn, wer oder was gehört zu mir und was nicht; als Drittes die Frage, was bleibt mein Geheimnis und was gehört in die Öffentlichkeit; als Viertes die Frage der Generationengerechtigkeit und als Letztes die Frage der gesellschaftlich gültigen Hierarchien (zitiert nach Jan Assmann).

Je stärker diese Perspektiven an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen, umso intensiver und bestimmter wird aus Sicht von Koselleck Geschichte gemacht. Je mehr Menschen begreifen, dass diese Fragen verhandelt werden, umso stärker sollte also das Geschichtsbewusstsein in einer Gesellschaft werden. Kurz gefasst: Je stärker die Krise, desto stärker kann sich in einer Gesellschaft das politische und historische Bewusstsein oder auch die politische Diskussion entwickeln.

Es kann kein Zweifel sein, dass alle fünf von Koselleck benannten Kategorien heute in extremer Weise verhandelt werden. Das Tötenkönnen ist nicht mehr nur eine abstrakte Androhung eines Nuklearkrieges, der nicht stattfinden soll, sondern in den vergangenen Jahren eine Kategorie politischen Handelns geworden. Von Putin bis Lukaschenko oder den saudi-arabischen Kronprinzen, von Erdogan, der foltern lässt, bis China, wo der Anführer Xi Ping bei den Militärparaden, die er an sich vorbeiziehen lässt, immer mehr Gestalt und Gesichtszüge von Stalin annimmt. Das Böse verbirgt sich nicht einmal mehr.

Das Zweite: Wer ist unser Freund? Amerika, das mit Donald Trump sein hässliches Gesicht zeigte? Oder doch Russland, das nach Putin eine ganz andere Welt sein wird? Europa, das bei allen Erfolgen auch zerrissen bleibt?

Und als Drittes die Frage: Was bleibt mein Geheimnis? Eine Gesellschaft, die durch die Digitalisierung immer transparenter wird. Der gläserne Konsument, der seine Datenspur im Netz jeden Augenblick abgibt. Das ist heute die gespenstische Wirklichkeit. Welchen Raum hat das Geheimnis meines Lebens in dieser Welt überhaupt noch?

Und auch das Vierte, die Frage der Generationengerechtigkeit war noch nie so gravierend wie heute, da die jungen Menschen auf keine Rente mehr vertrauen können und nicht wissen, wie das Klima sein wird, wenn sie selbst Kinder haben.

Und natürlich – als Fünftes – die Frage nach der Hierarchie der Gesellschaft: Hier die Reichen und Mächtigen, die während Corona noch bessere Aktiengeschäfte machen konnten; auf der anderen Seite ein Drittel der Gesellschaft, das Angst hat, sozial abgehängt oder sogar ausgeschlossen zu werden. Die Krisensymptome, die Koselleck als fruchtbaren Boden für politisches Bewusstsein ausmacht, sind nicht nur vorhanden, sondern geradezu überlebensgroß! Und die Klimakatastrophe, die sichtbar und spürbar auf uns zukommt, ist ja nicht nur eine Frage der Generationengerechtigkeit, sondern sie gehört nach Koselleck durchaus zum ersten Punkt seiner Aufzählung dazu, der Frage nach dem Tötenkönnen von Menschen, die sich bei zunehmenden gewaltigen Katastrophen selbst nicht mehr wehren können.

Und wir heute? Unsere Gesellschaft? Unsere Medien? Unsere Politik? Sind wir durch die Krisen, die sich so fundamental abzeichnen, ausreichend politisch bewusst geworden? Die Pandemie hat jedenfalls eines gelehrt. Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind zum überwiegenden Teil fähig, Zumutungen auszuhalten und Verantwortung wahrzunehmen. Natürlich es gibt sie, die Querdenker, die abstrusen Verschwörungstheoretiker, die Jürgen Flieges und die Hubert Aiwangers dieser Welt, die noch aus jeder Krise ihren eigenen Vorteil ziehen wollen.

Aber das war doch eine Minderheit. Erst als die Konzepte der bayerischen Staatsregierung zunehmend fehlerhaft wurden, regte sich Unwillen bei den Menschen. Aber selbst da – die meisten machten mit, wo es notwendig war. Kaum ein Land ist so gut durch die Pandemie gekommen wie Deutschland. Das waren schon auch die Bürgerinnen und Bürger, die Einschränkungen solidarisch akzeptiert haben. Das bleibt bemerkenswert und gibt Anlass zur Hoffnung. Das zeigt, dass die Menschen hierzulande politisch mündiger sind, als es so mancher gerne hätte. Die Bürgerinnen und Bürger sind offenkundig in großer Zahl ansprechbar für politische Themen und Fragestellungen.

Und die Medien? Kaum ein Land bildet die großen Krisen dieser Welt so differenziert ab wie die Medienlandschaft hierzulande. Von den Tagesthemen über das Heute-Journal bis hin zum Leitartikel in den großen deutschen Tageszeitungen. Dass die Medien bewusst fehlinformieren, wie manche immer noch so bösartig erzählen, ist der derselbe Blödsinn wie die These, dass die Impfung gegen Corona auf lange Sicht schadet. Wer liest oder bewusst fernsieht, der kann sich wirklich ein Bild machen, wie es um unsere Welt steht. Und die Kommentare sind anlassentsprechend oft genug dramatisch, ganz gleich, ob es um die globale Umweltkrise oder das Wettrüsten der großen Nationen geht. An den Medien liegt es nicht, wenn die Krisen der Welt nicht auf ausreichend politische Resonanz treffen.

Bleibt die Politik. Bleibt der Schlafwagenwahlkampf. Warum sind die Parteien und ihre Kandidaten sechs Wochen vor der Wahl wie gelähmt – und kaum fähig, die Menschen anzusprechen und in den Krisen, die doch allen bewusst sind, Angebote zu machen. Echte Lösungen vorzulegen. Das Ganze erinnert eher an den Stellungskrieg vor Verdun im Ersten Weltkrieg, wo täglich um 20 Meter Boden gerungen wurde. Warum das?

Armin Laschet: Sein Lachen bei der Flut ist doch ein Symptom. Er steht vor der Krise und bleibt in seiner eigenen Welt. Und lacht. Ein Bürokrat der Macht. Dringt nicht durch zur Not der Menschen. Bleibt Berufspolitiker, der jetzt scheinbar unbeobachtet wieder unbeteiligt sein darf. Ein Biedermann. Natürlich, die Menschen spüren das, seine Zustimmungsquote fällt dramatisch – und es ist heute nicht mehr vorstellbar, dass er Kanzler in diesem Land wird. Jetzt ist er wirklich gelähmt, er kann nichts mehr richtig machen. Er bleibt entlarvt. Immerhin erzählt er in einer Talkshow, dass er zu Hause gerne die Flaschen zum Müll bringt und alte Zeitungen entsorgt. Weiter kann man von den Krisen der Welt nicht weg sein!

Olaf Scholz. Angesehener Oberbürgermeister in Hamburg. Beliebt. Dann der Weg in Berlin bis zum Vizekanzler. Das Vertrauen in ihn wächst bei den Menschen. Aber hinter ihm steht eine Parteispitze, die nicht hinter ihm steht. Und ein Karrierist, ehemals Chef der Jusos, ohne weiterführende Ausbildung oder Berufserfahrung, der auf eigene Rechnung spielt. Für alle Beteiligten gilt: Jetzt möglichst nicht mehr bewegen, dann wird schon nichts mehr passieren bei der zunehmenden Wählergunst. Nach der Wahl werden dann wieder die Messer gewetzt. Wahlkampfrezept: Die Krisen der Welt ansprechen, aber den Menschen möglichst keine Angst machen, gerade wo es Grund zur Angst gibt. Gelassenheit und Seriosität ausstrahlen. Anlass zur Hoffnung: Parteivorsitzende sind nicht für die Ewigkeit gewählt und auch ungelernte Hilfskräfte können entzaubert werden. Dieses seltsame Führungsviereck würde zerbrechen, wenn Scholz wirklich Kanzler wird, was immer wahrscheinlicher wird.

Die Grünen: Sprechen die Krisen, vor allem das Umwelt-Thema, in der gebotenen Härte an. Sind sich am ehesten bewusst, wohin diese Erde geht, wenn sich nichts ändert. Ernsthaft, aber nach den Auftaktfehlern im Wahlkampf verkrampft vor lauter Angst, noch mehr Fehler zu machen.

Die falsche Kandidatin? Die Angst, dass der liebenswürdige Robert Habeck von den abgezockten Polit-Profis in Berlin an die Wand gespielt würde, war nicht ganz unbegründet. Also die rotzige Annalena Baerbock, die sich gut wehren kann. Ohne die Anfangsfehler im Wahlkampf hätte es klappen können. Jetzt aber wie gelähmt vor Angst, das gute Ergebnis, das schon so nahe war, noch zu verdaddeln. Also auch hier eine Lähmung.

Die FDP: Klientelpartei für die Besserverdienenden, die sich vor allem steuerlich schlecht behandelt fühlen. Die Krisen der Welt zeichnen sich am Horizont ab, das mag sein, aber der Wahltag rückt näher. Jetzt also Stimmen sammeln …

Bei solcher Gemengelage ist es kein Wunder, dass trotz des gewaltigen politischen Handlungsbedarfs im Anblick der Krisen der Welt im Wahlkampf politische Windstille herrscht. Gespenstische Windstille. Sinnleere und öde Debatten. Und wie geht’s dann aus? Keiner will mehr mit Laschet, das zeichnet sich ab, da reichen dann auch gut 25 Prozent am Ende nicht mehr aus. Die Grünen und die SPD, die wollen sehr gerne miteinander. Und die FDP? Die muss diesmal, sonst verschwindet sie. Sie muss, ganz gleich mit wem. Auch ein politisches Schicksal.

Straubinger Tagblatt vom 14. August 2021